#expose3 Künstler
Künstler
Kunsthistoriker M.A.
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Bewegender Moment (2)

„Papa, was machst du da?“, quiekt die kleine Geera ihren Vater an. Es ist später Vormittag, der Himmel ist klar und angenehm sommerlich warm. Andere Mitglieder des Clans gehen ihrer Hauptbeschäftigung nach und durchforsten heute das nahe Tal nach Nahrung. Auch reife Beerenfrüchte sind unweit ihrer Heimstätte entdeckt worden. Geera sitzt im schattigen Höhleneingang und spielt mit ihrer Puppe aus einer braunen Kastanie als Kopf, Holzstäbchen als Rumpf und Flachsfasern als Hülle. Ihr Vater ist gerade beschäftigt aus einem Haufen Mammut-Stoßzähnen ein passendes Bruch-stück für eine bestimmte Idee herauszusuchen. Diese wertvollen Elfenbeine sind nicht nur zum Bau von Hütten im Sommer geeignet, worin zumeist Jugendliche oft an warmen Tagen ihre Nächte außerhalb der Höhle verbringen.

Ihr kleiner Vorrat im hinteren Höhlenbereich geht langsam zur Neige. Seit der letzten Mammut-Jagd mit seinen Freunden, bei der er am linken Bein verletzt wurde, ist er mehr oder weniger gezwungen, sich in ihrer großräumigen Stammhöhle aufzuhalten. Damals hatte er Glück, dass nichts Schlimmeres passiert ist.

Es sollte wenig hart ausfallen, leicht zu bearbeiten und als edle Spielfigur für seine Tochter zu ihrem fortgeschrittenen Geburtstag ein Geschenk sein. Wie ein echter Hingucker und Handschmeichler in ihren Händen liegen, um damit spielen zu können. „Lass dich über-raschen“, dröhnt warmherzig ihr Vater über seine rechte Schulter zurück, Spinnweben entfernend. Sie wendet für einen Augenblick ihren Kopf, von der gerade gebetteten Puppe mit einem kleinen Hasenfell, zu ihm. Ihr rundes, von blondgelockten Haaren umrahmte pausbäckige Gesicht leuchtet bei seinen Worten vor Vorfreude und ihr kleiner Mund entblößt beim verschmitzten Lächeln eine mittlere Lücke zwischen ansonsten zwei ebenmäßigen kleinen Zahnreihen.

Aus einem faustgroßen gelbstichigen Tier-knochen eine Spielzeugfigur zu schnitzen, erfordert ein scharfes Werkzeug, geeignetes Material und viel Zeit. Diese hat er. Und so entscheidet er sich, für sie aus einem brauchbaren Stück Stoßzahn eine kleine Mammut-Figur zu schnitzen. Seine Tochter bewundert jedes Mal diese Riesen, wenn sie unweit der Höhle auf einen Hügel steigt, um die Tiere in der Ferne zu beobachten. Dabei gerät sie jedes Mal in Verzückung, wenn sie die Kleinen sieht.

Damals, im Sommer, nach jenem ergreifenden Jagderlebnis, träumte er später von der riskanten Mammutjagd, bei der er verwundet wurde. Die durchdachte Jagdmethode, untere Beinsehnen des Tieres mit dem Messer aus scharfem Feuerstein zu durchschneiden, um das Tier zu Fall zu bringen, misslang. Sie alle flohen unter gefährlichen Umständen.

Das Traum-Mammut war riesig, größer als ihre gemeinschaftliche Wohnhöhle, plötzlich aufge-taucht und verfolgte ihn. Fast holte es ihn ein. In seiner Not rief er nach seinen Ahnen um Hilfe, die ihm in Gestalt eines Löwen erschie-nen. Dieser stellte sich mit seiner gewaltigen goldgelben und strahlenartigen Sonnenmähne schützend zwischen ihn und dem schwerfällig herantrampelnden Mammut. Nun grölte der Löwe einen markerschütternden tiefen Brüller - roaar! - in Richtung Fellgigant, der augen-blicklich anhielt, seinen langen Rüssel in die Höhe hob und angstvoll mit hohem Laut trompetete. Dann löste er sich in Nichts auf.

Der Löwe drehte sich sogleich zu ihm um. Erschrocken und gleichzeitig erleichtert über die gebannte Gefahr und nunmehr verblüfft, stellte er plötzlich fest, dass das Getier einen schlanken Menschenleib hatte. Und als ob es grinsend gesagt hätte, ich beschütze dich und deine Sippschaft, löste es sich auf.

Am nächsten Tag am abendlichen Lagerfeuer erzählte der Jäger seinem Clan den Traum, der alle faszinierte. Der Schamane war besonders beeindruckt gewesen, vertrat die Ansicht, dass er ein auserwählter Jäger wäre und beauftragte ihn, die Figur des Löwenmenschen aus einem Stoßzahn des Mammuts zu schnitzen. Eine Mondphase später wurde die Figur des Löwenmenschen zum Stammeszeichen geweiht.

Seitdem ist er ein Berater des Ältesten und gefragter Handwerker für jegliche Höhlen- und Jagdgeräte. Ideen in Gegenstände des täg-lichen Nutzens zu verwandeln, die andere Mitglieder nicht nur zweckentfremdet verstehen, sondern auch nutzen können, bleibt auf Lebenszeit seine Stärke. Beispielsweise Steinschleuder, Speer, Spielsachen und bald eine neue Jagdwaffe: Pfeil und Bogen.

Unvermutet lächelt der Neandertaler selbst-zufrieden, in seinen breiten und kräftigen Händen wie unbewusst haltend ein schönes und wohltuendes Stück Elfenbein. Ganz auch im Zeichen seiner Vorfreude über die anstehende Feierlichkeit.

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