#expose3 Künstler
Künstler
Kunsthistoriker M.A.
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„Du willst die ganze Kunst bzw. deren Chronik auf die drei Komponenten Realität, Abstraktion und Zufall herunterbrechen! Und jetzt kommst du mit Rationalismus und Empirismus daher.“

„Sie sind ein Brennpunkt der Kunst und Kultur: Empirismus als unmittelbarer Sinneseindruck der Realität und Rationalismus als abstrakte Imagi-nation der Wirklichkeit. Dabei wird ihnen die Zu-fälligkeit zum unvorhersehbaren Beitrag eines Abenteuers, sage ich und ergänze:

Ja, sie beflügeln meine Kunst- und Geschichts-Erfahrung von über 65 Jahren. Nein, es ist kein Herunterbrechen, sondern ein Reduzieren auf drei Basisbegriffe. Sie lassen erahnen, wie ge-nügsam die Welt aus der Sicht des Reduk-tionismus zu verstehen möglich ist: Realität als die wahre Begebenheit, Tatsache, faktische Beschaffenheit, künstlerische Wahrhaftigkeit; Abstraktion als deutlich erkennbare Veredlung des Wesentlichen und Zufall als überraschendes Konstrukt.

Das Philosophieren inspiriert unseren Fortschritt und die Lebensführung. Rationalismus und Em-pirismus beleuchten dabei unzweideutig, dass der Mensch mit seinem vernunftgemäßen Wahr-nehmungsvermögen auch für weitere neue Erkenntnisse offenbleibt.

In der Literatur liest sich das beispielsweise so:

„Vor grauen Jahren lebt‘ ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
Dass ihn der Mann in Osten darum nie
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
Und setzte fest, dass dieser wiederum
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
Ohn‘ Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. –
Versteh mich, Sultan.“

So beginnt Die Ringparabel im fünfaktigen123 Drama Nathan der Weise von Lessing (Dichter, Aufklärer). Das Werk hat als Themenschwer-punkte den Humanismus, festgefahrene Struk-turen sowie Fanatismus; sich von Vorurteilen zu lösen und den Toleranzgedanken der Aufklärung. Besonders berühmt wurde die Ringparabel im dritten Aufzug des Dramas, in dem die drei Ringe Christentum, Judentum und Islam symbolisieren.

„Ich möchte daran erinnern“, ich wende mich dabei freigeistig an meine Kollegin, „dass die progressiven Bürger seit dem 17. Jh. mit den Mitteln der Vernunft, das Denken von Verzwei-flung und Aberglauben zu befreien suchen. Sie richten sich unter anderem gegen Feudalabsolutismus.“

Sie unterbricht mich: „Worauf willst du hinaus?“

„Wir kommen gleich zur bildenden Kunst. Die Li-teratur ist weltanschaulich jener Epoche, die in Deutschland um die Wende zum 18. Jh., in England und Frankreich schon im 17. Jh. ein-setzt. Einfach gesagt, die Aufklärung wird ein Mittel zum Zweck. Ihr Ziel ist der unfreie Mensch, der über dessen geknechtetes Dasein von Gebil-deten vorurteilsfrei belehrt wird. Das trifft ebenso auf die beaux arts zu, die schönen Künste, aus denen die bildende Kunst wird. Kommen wir in medias res.

Stellen wir drei prominenten Philosophen die be-rühmte Frage: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Sokrates würde natürlich sagen: „Keine Ahnung.“ Und würde dabei aufreizend grinsen. Descartes setzte auf Vernunft und sagte: „An allem ist zu zweifeln.“ Kant antwortete über-legt mit einer komplexen Gegenfrage: „Was kann die Henne wissen und was soll sie tun, damit sie hoffen darf, das Ei zu legen?“

Meine Bekannte bemerkt folgerichtig: „Du gehst von der praktischen Philosophie aus, oder?“

„Ja, sage ich, „aus dem ‚urzeitgeschichtlichen‘ Bewusstsein der Antike. Nach Aristoteles124 richtet sie sich auf das zweckgebundene Han-deln. Woraus beispielsweise Jürgen Haber-mas125 im 20. Jh. die Theorie des kommuni-kativen Handelns‘ entwirft, in dem der okzi-dentale Rationalismus eine bestimmende Rolle spielt. Ein Rationalist hinterfragt das überlieferte, traditionelle Wissen, aber, bereits damals Descartes: „Wenn man zu begierig ist, in der Vergangenheit zu leben, so bleibt man gewöhn-lich sehr unwissend in der Gegenwart.126 „Ich denke, also bin ich." Um nicht zu sagen, der Mensch denkt und hat die vernunftgemäße Selbsterkenntnis, dass er im Jetzt existiert.“

„Du meinst, beide Erkenntnisse wären für deine ganzheitliche Betrachtung von Bedeutung?“

„Ja, zum Rationalismus sagen Kritiker, es gäbe keine seienden Ideen und die Vernunft sei ein Produkt der Erfahrung.“

1231779 veröffentlicht, am 14. April 1783 in Berlin uraufge-führt.
124Aristoteles (384 v. Chr. - 322 vor. Chr.) gr. Universalgel.
125 Jürgen Habermas (*1929), dt. Philosoph und Soziologe
126https://beruhmte-zitate.de/autoren/rene-descartes/, 08.11.22, 10:23 Uhr