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Xanthippe, seine streitsüchtige und fürsorgliche Ehefrau, erscheint entschlossen in der Tür. Eine geflochtene, medusenähnliche, schwarze Hoch-steckfrisur verstärkt ihre reizbare große Erschei-nung. „Zwei Soldaten stehen vor dem Hauptein-gang!“ Sie sagt es laut mit besorgniserregender Miene und beängstigendem Ausdruck in den Au-gen. Der Philosoph ahnt, warum sie gekommen sind. Unverhofft lässt ihn Mr Sajber für Bruchteile einiger Sekunden seine Zukunft sehen. Vor sei-nen Augen sieht er seine Verurteilung, weil er an-geblich gottlos sei und die Jugend verführe, an-ders zu denken als die Norm. In Wahrheit kritisiert er die Politiker, die ihr Amt nicht richtig erfüllten. So macht er sich viele Feinde, die ihn vor Gericht bringen und zum Tode verurteilen107. Sokrates Weltanschauungen inspirieren nicht nur Philosophen, Schriftsteller und Künstler bis heute. Deutlich gilt er als Vorkämpfer für die Vernunft und die Idee des freien Menschen.
In der Erklärung d’Alemberts „Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei…“, ist die Aussage auf die Kunst übertragbar.
Nun meldet sich ein Philosoph, der die Dimen-sion der Veränderung, des "Werdens", in seiner ganzen Tragweite erkannt und ausgearbeitet hat, Hegel:108
„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“
Was sind die Auswirkungen der Gelehrten des
17. Und 18. Jh.s auf die Kunst im Allgemeinen und auf die bildende Kunst im Besonderen?
Für die Gebildeten wurde im Allgemeinen „Sapere aude“ zum Leitspruch, übersetzt: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedie-nen! Es ist der deutsche Philosoph Immanuel Kant, der 1784 das lateinische Sprichwort zum kritischen Denkansatz der Aufklärung macht. Anders als Sokrates zensiert Kant keine Institu-tion und erwähnt keine Namen von Personen.
Voraussetzung sind demnach für die Kunst: Realitäts-Wissen, abstraktes Denken und selbst-bestimmte Freiheit. Noch einmal Hegel: „Was dem Tier versagt bleibt, offenbart sich jedoch dem Geist: der endliche Geist wird sich im einzelnen Menschen seiner Freiheit bewusst.“109 Er wird vom Faktor Zufall quantitativ mehr be-einflusst und damit abhängiger.
Die Kunstfreiheit ist in Deutschland ein Grund-recht: Art. 5 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG).
Wo aber findet sich eine taugliche Fortsetzung auf dem Weg zur modernen Kunst? Viele
Ge-lehrte erforschen die generellen Fragen men-schlichen Daseins. Sein oder nicht sein; diese Frage stellt sich jedoch kein Herrscher, der bereits mit vier Jahren Monarch und Erbe eines autokratisch geführten Staates wird. Als Er-wachsener Liebhaber schöner Künste, eben-solcher Frauen, Kultur-, Kriegs- und Regie-rungskönig bietet er bildender Kunst erstmals nicht nur eine öffentliche Bühne, sondern lässt deren Werke von einer bis dato schier für unmöglich erwarteten Präsentation zeigen.
Ludwig XIV.110 erwacht am 9. April 1667 aus seinem erholsamen Schlaf. Ein Traum geht in Erfüllung. Das ehemalige Jagdschloss seines Vaters hat er in einen Palast umbauen lassen.
Versailles wird zum Zentrum königlicher Macht und zum künftigen Regierungssitz. Durch die seitlich gerafften Vorhänge seines Himmelbettes sucht er erst einmal den scheinbar geheimnis-umwobenen Anblick der Mona Lisa111. Jedes Mal fällt sein Blick vorab auf ihre Stirn. Ohne Augenbrauen wirkt diese dominant. Das Kind-chenschema findet sich auch im kleinen, runden Kinn. Sie schaut knapp an ihm vorbei. Als ob sie ihm mitteilen will, dass es sittenlos für einen Kö-nig sei, seine Frau Maria Therese112 zu be-trügen, jedoch andererseits sie sich genüsslich mitfreue. Dieser Gedanke bewirkt bei ihm das-selbe Mona-Lisa-Lächeln in seinem Gesicht. Was er aber nicht ahnt, dass Lisa ebenso einen Geliebten gehabt hat113.
Nachdem er sich von ihrem elegant milden Lächeln entführen gelassen hat, das ihm einen verheißungsvollen Tag verspricht, und sich an ihrer Anmut satt gesehen versprochen hat, kehrt er wieder in die Realität zurück. Er wendet sei-nen Malachit-Blick auf den wirklichen Menschen neben sich in seinem Bett liegend und spricht leise.
„Athénaïs114, ma chérie , steh auf. Heute ist ein besonderer Tag. Bald kommen sie alle und ich möchte nicht, dass sie dich nackt sehen. Das darf nur ich, le roi soleil.“