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Der Philosoph Sokrates 91nimmt die Philoso-phie wörtlich. Ihm geht es sowohl um die „Liebe zur Weisheit“, dem Wissen an sich, als auch und vor allem um die geistige Geschicklichkeit.
„My dear, Mr. Sokrates, ich bin sprachlos. Was erlauben Sie sich? Auf Ihrem und dem Ihrer Genossen moralisch richtigen Leben gründet sich das ganze abendländische Denken. Und dann dieser folgewidrige Satz?
Was meinen Sie, dear colleague Mr. Leibniz?92
„Aber, aber, verehrter Herr Newton93, sind Sie auf den Kopf gefallen, das ist nicht diskrepant! Hätten Sie in der Schule Altgriechisch gelernt oder sich selbst diese Gelehrtensprache beige-bracht, wie ich mir, und hätten etwas über Sok-rates gelesen, wüssten Sie, was er meint. Ich glaube, Sie haben Ihre Zeit zu viel unter dem Apfelbaum im Garten ihres Onkels verbracht. Mit dem Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, hinterfragt Sokrates das, was man zu wissen meint. Es ist ein Weg, die Wahrheit zu erken-nen. Erkenne und beherrsche dich selbst.“
Newton in England und Leibniz in Deutschland – beide rivalisierten zeitweilig um die Gunst der Muse der Mathematik Ourania – gehören zu den Vordenkern der Aufklärung.
Leibniz referiert:
„Im Mittelpunkt meiner Zeit steht das geistige Vermögen und Zusammen-hänge zu erkennen, zu beurteilen, zu über-schauen und sich dementsprechend sinnvoll und zweckmäßig zu verhalten. Es geht vor allem um Vernunft. Lasst uns also vernünftig sein und zum Punkt kommen!“
„Ja aber, bei Ihnen, Monsieur René Descar-tes94 heißt es: „Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich.“ Entgegnet pikiert Newton.
„Das ist korrekt, lieber scientist.“ Nun fährt energisch Immanuel Kant95 in das durch Mr Sajber imaginär ermöglichte Gespräch dazwi-schen. „Wissen und Denken sind allerdings zweierlei. Aber das wissen Sie. Worauf ich hin-aus will, ist, dass wir, wenn wir etwas denken, nicht unbedingt darüber Bescheid wissen und umgekehrt. Wenn wir etwas wissen, denken wir nicht unbedingt darüber nach. Bloßes Denken ist demnach noch kein Wissen. Sapere aude.“
Der Sinn ist, seine Gedanken zu abstrahieren und das Wesentliche mit treffenden und nach-denklichen Worten zu pointieren.
Als Universalgenie hat Leibniz in der Mathema-tik 1705 das Dualsystem, auch Zweiersystem oder Binärsystem genannt, erfunden. Dabei werden Zahlen nur mit den Ziffern des Wertes null und eins dargestellt. Es bildet die Grund-lage heutiger Computer. Ein großartiges Beispiel wie aus einem vorschriftlichen Dezimal-System durch Abstrahierung etwas Neues und Einfaches sogar erträumt werden kann.
„Mon dieu, ‚Cogito ergo sum‘, das ist mein Stichwort, liebe Freunde geistiger Gesell-schaft,“ meldet sich endlich einschreitend Descartes. „Euch allen ist, wie auch seit dem Altertum bekannt, das nur als wahr anerkannt werden darf, was sich als klar und deutlich er-kennen lässt: Je pense donc je suis.“
Hinter den Ausführungen steckt die entschei-dende Annahme, dass alles, was der Mensch vernimmt, angezweifelt werden muss. Während Sokrates das eigene und das seiner Diskutan-ten Wissen hinterfragt, geht Descartes davon aus, dass die Sinneswahrnehmungen des Men-schen täuschen können. Als Wegbereiter des Zeitalters der Aufklärung fordert er die Men-schen in seinen Schriften dazu auf, nicht länger das zu glauben, was andere als die Wahrheit lehren.
„Ja, folglich: Du denkst, also bist Du. Aber Du weißt, dass Du noch lange nichts weißt.“
Provoziert erneut Sokrates Descartes.
„Aber Du weißt, was du siehst, dass Du noch lange keine Wirklichkeit siehst.“ Provoziert erneut Sokrates Descartes, der sein Gesicht nachdenklich verzieht und an Platons Höhlen-gleichnis denkt. Es geht nicht um „Wissen ist Macht.“96 Sokrates will rhetorisch erreichen, dass seine Gesprächspartner aus Überzeu-gung zur gleichen Meinung kommen wie er. Und so erklärt er bedachtsam:
„Jetzt aber Spaß beiseite, bitte folgen Sie die-sen Gedanken:
Wer nichts weiß und weiß nicht, daß er nichts weiß, ist ein Tor – meide ihn.
Wer nichts weiß und weiß, daß er nichts weiß, ist bescheiden – belehre ihn.
Wer etwas weiß und weiß nicht, daß er etwas weiß, ist im Schlafe – wecke ihn.
Wer etwas weiß und weiß, daß er etwas weiß, ist weise – folge ihm“.97
In der Kunst der öffentlichen Rede ist Sokrates einzigartig. Er soll eine besondere Redetechnik erfunden haben. Durch die von ihm geschick-ten Fragen und ausgedeuteten Widersprüche findet sein Gesprächspartner „von selbst“ zur Wahrheit. Darüber später genauer.