Giotto sieht den Künstler nicht (wie früher) als reinen „Erfüllungsgehilfen der Glorie Gottes“, sondern als schaffendes, gebildetes Indivi-duum, welchem eine eigene Identität zusteht.85 Seine Respektsperson könnte später Nietzsche allenfalls so erklären: Sein Ehrgeiz zur Wirklichkeitsbesinnung, Selbstentfaltung und Geltung hätten einen „KünstlerÜber-menschen“ jener Zeit heraufbeschworen, der in der Renaissance zur hohen gesellschaftlichen Wertschätzung aufsteigt.
Wer einmal die ‚Galleria degli Uffizi‘ in Florenz besucht und die dortigen Gemälde von Cima-bue und Giotto vergleicht, wird augenfällig bei
Giotto feststellen: Hier wird nicht Gott gerühmt, sondern der Betrachter ist aufgefordert, sich mit dem religiösen Glauben auseinanderzusetzen. Göttliche Illusion wird zur menschenwürdigen Wahrnehmung. Vasari schreibt 1568 über ihn: Er »wurde ein derart guter Imitator der Natur, dass er die schwerfällige griechische Malweise komplett verwarf und die gute, moderne ((sic)) Art des Malens wieder zum Leben erweckte, bei der die Menschen genau nach dem Leben porträtiert wurden, was über mehr als zweihun-dert Jahre nicht mehr vorgekommen war«.86
Seitab der besprochenen Madonna, befindet sich sein wohl am besten erhaltenes Hauptwerk der große Freskenzyklus in der Cappella degli Scrovegni all’ Arena in Padua, 1303 bis 1306. Dort malt er mehr als 100 Szenen aus dem Le-ben Mariä und Jesu, auch Architektur-Elemente. Dem Betrachter werden Nischen vorgetäuscht (Trompe-l’œil), in denen gleich-nishafte Figuren zu stehen scheinen. Es ist sein Verdienst, die illusionistische Malerei wieder aufleben zu lassen. Eine damals nahezu ver-gessene Technik. Die ältesten erhaltenen Bei-spiele sind aus Pompeji bekannt.87
Giottos maltechnische88 und gestalterische Möglichkeiten generieren einen frischen religiö-sen Anblick, einen jungen Bildtypus. Seine Neuerungen bilden die Basis zur abendländi-schen Malerei der Kunstepoche der Renais-sance. Der Geist der Kunst hat mit dem Maler, Mosaisten und Architekten eine ungeahnte Di-mension der Neuschöpfung erreicht und eine zukunftsträchtige Position der Kunstgeschichte manifestiert. Ihre Folge reift erst 100 Jahren später mit Masaccios (1401-1428) Malerei. Mi-chelangelo (1475-1564) wurde ebenso von seiner Formgestaltung beeinflusst.89
Für einen Atemzug hält Mr Sajber inne. Er spürt regelrecht, dass dieser Ausflug in die Vergang-enheit faszinierend ist. Die Wiederbelebung der Antike bestätigt zwar nachhaltig kulturelle Ver-änderung vom Mittelalter zur Neuzeit, aber dieses Ereignis und seinen tiefgreifenden Wan-del live mitzuerleben, lassen ihn vor Ehrfurcht erschauern. „Das Glück ist ein Geschenk des Augenblicks“, denkt er, bevor seine reale Ge-genwart wieder auf seinem Heimatplaneten materialisiert. Nach diesen Strapazen ist es er-forderlich einen Gesundheitsscheck und tech-nologische Wartung an seinem ‚Q Sys 1t‘, durch-führen zu lassen. Er arbeitet mit Quantenbits oder kurz Qubits, die miteinander wechselwir-ken können. Zuverlässige Imaginationen werden jedoch von Mr Sajbers Persönlichkeit dirigiert.
Warum ergießt sich nur der Schwermuth Schauer
Wie beleuchtet, wurden neue Fähigkeiten vom Bildungsbürgertum getragen, neue Einsichten über Gott, Mensch und die Welt möglich. Ihre Geistesbewegung wird später als Humanismus in die Chronik eingehen. Nach den kunstge-schichtlichen Epochen der Renaissance, des Barocks und Rokokos konkurrieren überschnei-dend Klas-sizismus (1770-1840) und Romantik (ca. 1790-1850). Sie nutzen die Gunst der Stunde, um auf dem Weg der Kunst der Moderne Geschichte zu schreiben.
Aus deiner Schaale mir, Erinnerung?
Warum bewölkt der Sehnsucht stille Trauer
Der Seele Blick mit trüber Dämmerung?
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Beflügle mich, schon bricht aus schwarzer Hülle
Der Hofnung lichtes Morgenroth hervor,
Die Welt ist schön, und schönre Lebensfülle
Schäumt mir aus deinem Zauberkelch empor.90
„Erinnerung und Phantasie“, Leidenschaft, Trau-er, Liebe, Freude und Freiheit sind die Themen dieses Gedichtes von Mereau. Sie sind gut ge-eignet zwischen Klassizismus und Romantik zu vermitteln, hier: Dramatik, Mystik und Sehnsucht reichen einander die Hand.
Nach der naturwissenschaftlichen Revolution vom 15.-17. Jh., in der Kosmologie und Physik, Medizin und Chemie sowie praktisches Experi-mentieren zu neuem Wissen beitragen, ent-wickelt sich die Geisteswissenschaft erstaunlich einflussreich. Fortwährende Erforschung der Antike führt zur Entfaltung von Philosophie, Literatur, Musik, Architektur und bildender Kunst ungeahnten Ausmaßes.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß!“
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