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Giotto nunmehr schwärmerisch:
„Ich glaube, wenn wir schöne Bilder malen, wird unsere Welt schöner. Ich jedenfalls fühle mich dazu verpflichtet. Da in den Kirchen in lateini-scher Sprache gepredigt wird und die meisten cittadini diese Sprache nicht verstehen, freue ich mich, ihnen Gottes Kosmos in wundervollen Bildern verständlich zu erzählen.“
Unerwartet wird es im Thronhimmel lebhaft. Beide Madonnen mit ihren Jungen erheben sich gleichzeitig bedächtig vorsichtig, um ihre Köpfe nicht am Rahmen bzw. prunkvollen Baldachin zu verletzen, und schweben rauschend leise zu den Künstlern auf den Rasen nahe
ihrer Steinbank hinab. Die ganze Umgebung leuchtet von ihren Gestalten umgebenden Strahlen-kränze auf. Jeder einzelne grüne Grashalm richtet sich, wie vor Freude zappelig auf, um nun noch ein größeres Wunder zu erspähen. Cimabue und Giotto, geblendet vom heiligen Licht, sind sprachlos, trauen ihren Augen kaum, knien nieder. Sie sind vom göttlichen Erlebnis aufs Tiefste berührt. Es ist still. Weder Froschquaken noch Eulenlaute sind zu hören. Kein Grillenzirpen. Nicht einmal ein Lüftchen behelligt die angehende feierliche Zeremonie. Beide Himmelsköniginnen und ihre Kinder wen-den sich etwas steif aber huldvoll schauend den jeweiligen Malern zu, lächeln sie mild an, blei-ben schweigsam. Die Jesu Kinder heben ihre Rechten mit zwei erhobenen Fingern, machen das Kreuzzeichen und ihre kindlichen Stimmen erklingen zugleich: „Ich segne dein Sein.“ Kurz danach löst sich der Spuk auf. Es blitzen Sterne zum Abschied am nächtlichen Himmel auf, da wo soeben Wundersames geschah. Leises Rumoren der beiden Flüsse und ihr hörbares Herzklopfen bringen die Künstler in die surreale Wirklichkeit wieder zurück
Giotto, wie in Trance:
„Es ist spät geworden, ich kehre zurück zu den Lebenden, addio.“
Cimabue ebenso benommen, doch väterlich:
„Eile mit Weile, mio caro amico, addio .“ – und entschwindet ebenfalls.
„Frühstück!“, Giotto erwacht aus seinem langen Traum. Seine Frau ruft aus der cucina, er hört Kindergebrabbel. In Gedanken vertieft beginnt er den Tag ruhig, gemächlich und voller neuer Ideen. Er weiß jetzt, wie er die Ognissanti-Madonna malen soll. Er sieht jedes Detail vor seinen inneren Augen. Seine Frau und ihr jüngstes Kind werden ihm Modell stehen. Sein Auftraggeber wird vom Ergebnis zufrieden sein.
Und begeistert von den angenehmen Erkennt-nissen und voller Vorfreude, beeilt er sich, in die Küche zum Frühstück zu kommen, wo er der Familie seinen Traum erzählen will. Hoffentlich wird seine Frau einverstanden sein.
Dazu kommt es bald, seine Frau freut sich darauf. Er beginnt denn auch bald mit Entwürfen und Vorzeichnungen. Doch vorher muss er die zugesicherte große Arbeit, den Fres-kenzyklus in Padua, Capella degli Scrovegni all’Arena, 1303 vorbereiten und 1306 beenden.
Resümee
Wie angeschaut, bedient sich Cimabue in au-genscheinlicher Hinsicht noch der byzantini-schen Formensprache durch die abgestimmte Darstellung des Motivs, der Personen in Gestik, Mimik, Faltenwurf und Farbgebung des Hinter-grunds vor einem ideellen Thronhimmel. Seine Massigkeit und Schwere wird durch den gold-farbenen Ton, und den Thron Engel schmie-gend, im Gleichgewicht gehalten. Ihre figurative Darbietung ist überdies mit einer stärker zum Leben vermittelnden Sinnlichkeit erfüllt und der wesentliche Anstoß zur ikonenhaften Überwin-dung.
Giottos Realität ist wirklichkeitsgetreue Darstel-lung durch die Natürlichkeit des Ausdrucks, der Harmonie und Proportion. Wie ein Fotoshoo-ting. Es erinnert nur noch das Motiv an eine Ikone. Er zaubert den Thronhimmel mit seinem Hofstaat auf die Erde herbei. Seine Komposit-ion entwickelt sich von der Mitte aus nach vorne öffnend. Er malt eine reale Frau mit ihrem Kind. Die Falten ihres Gewandes fallen so, wie es auch im Alltag üblich ist. Neben der plastischen Darstellung des Körperlichen wirkt die gotisch elegante Architektur des Baldachins bereits perspektivisch. Er befreit den Menschen aus dem Schema einer engen Bildsprache und erspürt seine Individualität.
In beiden besprochenen Madonnen ist eine gesellige Barmherzigkeit, weise Zurückhaltung und majestätische Unnahbarkeit zu erkennen. Sie sind eingerahmt gemalt wie in einem gedachten, säulenlosen, kleinen Saal in der Satteldachform. Der damals beliebte Bildtypus der thronenden Mutter Gottes mit Jesuskind verkündigt zudem die göttliche Botschaft der Liebe, der Kraft und die des Trostes.
Der christlich-humanistisch geprägte Giotto bricht entschieden mit der Vergangenheit, in-dem er den individuellen Menschen auf das Materielle seines Daseins abstrahiert.
Giotto:„..., wenn der Besitz fehlt, scheint es, daß auch die Vernunft fehlt“.84