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Die Stilisierung der Engel ist ein Merkmal by-zantinischer Ikonen. Giottos Madonna und ihr Kind sind eindeutig individuell ausgelegt und ikonografisch neu. Die symmetrisch angeordnete Engel jedoch ähneln sich einander.
Cimabue rühmend:
„Was ich bei deiner Malerei stets geschätzt ha-be, ist, wie du die Figuren in der Raumtiefe durch umgebende Architektur augenfällig ge-staltet hast. Deine Stattliche sitzt unter einem reich verzierten schmucken Spitzbogen. Sie wird in einem perspektivisch ausgestalteten Baldachin-Raum dargestellt, der von hintereinander und umgebend fluchtig angeordneten Engeln und Heiligen, akzentuiert ist. Eingehüllt ist sie in einen dunkelblauen Umhangmantel. Darunter trägt sie eine weiße Tunika mit Goldbordüren, hindeutend auf die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria. Ihren Kopf hält sie aufrecht und blickt den Betrachter arteigen und leutselig an.“
„Boccaccio zeigt sich in einer um 1350 entstan-denen Novelle des Dekameron besonders be-geistert von Giottos Malerei: „Er besaß ein so mächtiges Genie, dass die Natur, die Mutter und Schöpferin aller Dinge, unter den ewigen himmlischen Entwicklungen nichts hervorbringt, was er nicht mit dem Griffel, der Feder oder dem Pinsel reproduzieren könnte: eine so voll-kommene Reproduktion, dass es für die Augen nicht mehr eine Kopie, sondern das Modell selbst war. Sehr oft haben seine Werke den vi-suellen Sinn getäuscht, und man hat für die Wirklichkeit gehalten, was ein Gemälde ist“.82
Nach einem tiefen Seufzer sagt Cimabue:
„So gut ich mich auch bemüht habe, deine aus-geprägte Körperhaftigkeit konnte ich nicht errei-chen. Diese Hell-Dunkel-Verteilung ergibt eine mir bis dahin nicht bekannte plastische Form-gestaltung. Wie du sicherlich weißt, ergibt sich der Schattenverlauf aus der Form und das Licht aus der sichtbaren Gestaltung eines Gegen-standes. Mit meiner Thronenden bezwecke ich, den Kirchenbesucher zur raum- und zeitlosen Wirklichkeitsferne hinüberzubringen. Deine da-gegen weilt zielbewusst in der Natur der Sache diesseitig. Und noch etwas fällt mir auf. Mein gemalter Thron wirkt massiv und schwer. Du wartest auf mit der Charme schmückend fein ziselierter Thronarchitektur, wie mitten in einer liturgischen Geburtstagsfeier.“
Bei Cimabue fehlt dem Mienenspiel der Ma-donna, in der Zartheit des Kolorits, noch eine individuelle Charakternote. Sie entspricht der überlieferten Schemen-Kunstfertigkeit, die Ge-bärdenspiel vorgegeben hat.
Bei Giottos Madonna dagegen ist ein natürli-ches Lächeln angedeutet und ein sinnlicher Blick schaut einem Publikum entgegen. Ihr Sitzkissen verselbständigt sich in ein knallrotes und angedeutetes mit Borte goldgesäumtes Polster. Praktisch alle seine Figuren besitzen einen elfenbeinfarbenen Teint.
Cimabue jetzt sehr neugierig:
„Aber sag mir zum Schluss eins. Wie kamst du auf die Feigenmilch als universelles Bindemittel für Fresko und Tafelbilder?“
Giotto gut gelaunt schnell redend:
„Nachdem ich eine kleine Mauer gebaut und sie frisch verputzt hatte, ritzte ich in die Oberfläche des feuchten Kalkgrundes vier Finger breite Schachbrettfelder ein. Dann bestrich ich jedes Feld mit Tempera- bzw. Kaseinfarbe. Mit dem Ergebnis: Die Farben dunkelten nach, wie bei dir. Meine Intention war ein helles Inkarnat.“
Die Pigmente haften nicht einfach nur auf der Oberfläche der Wand, sondern gehen eine fes-te chemische Verbindung mit den oberen Schichten ein. Das Ergebnis ist eine beständige und harte Schicht, welche die Freskomalerei zu der in der Wandmalerei haltbarsten Methode macht. Als Pigmente für die Freskomalerei kommen nur kalkbeständige Farben in Frage. Pigmente, die durch Vermischung mit Kalk ihre Farbe verändern, sind für die Freskotechnik ungeeignet.83 Zum Erhalten der Farben und ihrer Wandoberfläche erforschte Giotto die Feigenmilch (heute: Naturkautschuk, Latex).
„Es war zum Mäusemelken. Nicht, dass mir nun die Milch einer Maus noch übrig bliebe. Aber was nun? Und da erinnerte ich mich daran, wie meine Mutter damals bei mir nur mit der Fei-genmilch auch eine Warze auf meinem Mittelfinger der rechten Hand erfolgreich be-handelte. Dabei fiel mir auf, wie klebrig diese weißliche Substanz war und beim Trocknen farblos und fest wurde. Also trug ich einen neuen frischen Putz auf. Danach verfuhr ich wie bereits beschrieben, dieses Mal mit nur der Feigenmilch. Den Rest der Geschichte kennst du ja bereits. Das ist auch der Hauptgrund für meine helle Farbigkeit. Düstere Farbigkeit bleibt dunkel.“
„Ja, ich habe auch Fehler gemacht“, setzt Giotto nach,„beim Fresko ‚Judaskuss‘ korrigierte ich einige entstandene Mängel des blauen Hintergrundes im Anschluss an den Trocknungsvorgang. Das erwies sich für die Haltbarkeit der auf der Oberfläche aufge-brachten Farbschicht als sehr begrenzt. Die aufgebrachte Farbe veränderte sich in ihrer Wirkung und wird wahrscheinlich irgendwann abblättern.“