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„Giotto, giovane amico di arte, ich bin von dei-ner Begabung beeindruckt. Mit weißer Kreide und schwarzer Kohle kannst du sehr gut umge-hen. Deutlich plastisch entstehen deine ge-zeichneten Tiere. Du muss jetzt nur die Figuren in Farbe umsetzen. Dann darfst du auch Heilige gestalten,“ sagt unterweisend Cimabue zu sei-nem jungen Schüler Giotto. „Und denk daran“, fügt er hinzu, „dein Bild repräsentiert zugleich dein Können und deine Idee. Das Handwerkli-che zeigt sich in der Reife deiner Fähigkeit er-kenntlich.“
„Nichts leichter als das“, antwortet hochgemut ehrgeizig sein Eleve.„Ich komme bald wieder, Maestro.“ Und er geht fieber-haft nach Hause, um an seinen noch juvenilen Ideen zu laborieren. Als Einzelkind muss er nebenbei noch Schafe hüten.
Von seinem Meister hat er inzwischen viel ge-lernt. Er weiß, antike Meister hatten sich bereits mit Wandmalereien auseinandergesetzt. Den-noch ist er unzufrieden mit deren Technik. Sie hinterlässt meist dunkle Abbildungen.
Hinter dem elterlichen Haus experimentiert er mit verschiedenen Extraktionen und Emulsio-nen in den nächsten Tagen. Er versucht die gemischten Pigmente an einer frisch verputzten kleinen Wand, die er selbst hochgezogen hat, haftbar zu machen. Naheliegend ist, denkt er, neben Wasser und Pflanzensäften, ein universell einsetzbares Bindemittel für alle Pigmentarten von Dauer – organische und anorganische. Dieses sollte neutral sein, um die Farbwirkung des Pigments nicht zu beeinträchtigen. Es sollte sich nach Maltechnik, Malgrund und den erstrebten Eigenschaften des Kolorits richten, wie Trocknung, Glanz, Deckkraft und vor allem dem farblosen Oberflächenschutz. Gegen Feuchtigkeit sollte es unempfindlich sein. Noch ahnt er nicht, dass Feigen eine entscheidende Rolle spielen werden.
Nachdem der Jugendliche die Milch aller ihm bekannten Tiere der Umgebung ausprobiert hat, diese hat die Eigenschaft durch Wasser,
Fett, Eiweiß, Zucker und Salze, die Farb-pigmente zu binden, stellt er fest: Sie hinterlässt beim Trocknen einen Schleier, sie wird nicht ganz durchscheinend. Ferner schützt sie nicht genug gegen Feuchte.
Und da fällt ihm zufällig ein, dass die Feigen-milch zwar giftig ist, jedoch besondere Eigen-schaften hat. Seine Mutter verwendet sie als Medizin zur Linderung bei Insektenstichen. Und von seinem Vater, der ein Schmied ist, hat er gelernt, dass sich die gewünschte Eigenschaft eines Materials nicht erzwingen lässt. Sie offenbart sich einem beim Auseinandersetzen in der Anwendung. Und tat-sächlich, diese pflanzliche Milch ist ideal, stellt er fest, und verträglich mit Eigelb.
Um die „Moderne“ Giottos noch besser zu er-fassen, folgt ein klarstellendes Gespräch zwi-schen Giotto und seinem Lehrmeister Cimabue. Dabei werden die Maestà di Santa Trinita, ca. 1290–1300, Tempera auf Holz, 385 × 223 cm von Cimabue und die Ognissanti-Madonna, um 1310, Tempera auf Holz, 325 × 204 cm, von Giotto betrachtet. Beide befinden sich heute in der Galleria degli Uffizi in Florenz.
Mr Sajber macht es erneut möglich. Wir sind im Jahre um 1300, vor Fertigstellung Giottos Ma-donna. Beide Künstler erscheinen vor ihren imaginären Originalen in einer lauen Sommer-nacht im späteren Stadtwäldchen von Florenz an der ursprünglichen Flussmündung Arno und Mugnone. Ihre großen leuchtenden Tafelbilder tauchen wie aus dem Nichts auf. Hätte sie je-mand gesehen, was wahrscheinlich sein kann, dann wäre dieser vor Überraschung erstarrt.
Cimabue und Giotto kommen aufeinander zu.
Cimabue und Giotto
Cimabue heiter:
„Caro amico, Maestro Giotto! Ich darf dich doch so nennen. Ich freue mich sehr, dich zu treffen. Ich habe deinen Weg verfolgt und von dir sehr viel Bewundernswertes gehört und vor deinem großartigen künftigen Gemälde heute mit dir zu stehen, ist mir eine große Freude und Ehre.“
Giotto freudestrahlend:
„Grazie caro vecchio amico, Maestro Cimabue. Auch ich freue mich, dich nach längerer Zeit zu sehen. Wie du siehst, werde ich von dir sehr viel gelernt haben.“ – sie setzen sich auf eine Steinbank.
Cimabue fein lächelnd:
„Ja, vor allem den Leitgedanken. Wir folgen ei-nem anmutigem Vorbild der byzantinisch thro-nenden Mutter Gottes. Unsere befinden sich im Zentrum, ihre Augen schauen huldreich und gü-tig den Betrachter an. Ihre Christuskinder sitzen auf ihrem Schoss mit dem Segensgestus.“
Giotto ergänzt:
„Bei dir zeigt sie mit ihrer rechten Hand auf ihr Kind. Bei mir ruht ihre langfingrige Rechte auf dem Knie ihres Kindes. Folglich der Personen-Bedeutung sind bei uns beiden die umgebenden Engel bzw. Heiligen kleiner dargestellt.“
Giotto weiter nach kurzem Abwarten:
„Deine Engel umrahmen sie auffällig harmo-nisch in symmetrischen Wendungen neigend, sodass in meinen Ohren der Gesang eines gregorianischen Chorals erklingt. Sie schweben geradezu und keiner schaut die Madonna an, sie wenden sich eher an Gläubige. Es kommt mir vor, bei der Schar, dass sie daher etwas an Importanza verliert.“