#expose3 Künstler
Künstler
Kunsthistoriker M.A.
Kunsthistoriker M.A.
Seite 1 Seite 2 Seite 3 Seite 4 Seite 5 Seite 6 Seite 7 Seite 8 Seite 9 Seite 10 Seite 11 Seite 12 Seite 13 Seite 14 Seite 15 Seite 16 Seite 17 Seite 18 Seite 19 Seite 20 Seite 21 Seite 22 Seite 23 Seite 24 Seite 25 Seite 26 Seite 27 Seite 28 Seite 29 Seite 30 Seite 31 Seite 32 Seite 33 Seite 34

Seite 20

„Mi scusi, Maestro Giotto, Dante lässt sich entschuldigen, er ist krank. Als Trost gab er mir für Sie einen gereimten Vers aus seiner „Göttlichen Komödie“68:

Die Diskutanten bedauern seine Verhinderung und wünschen dem Dichter eine baldige Genesung. Der Schüler verlässt den Raum. Giotto entschuldigt sich beim Gast und liest aber laut die kleine Strophe vor69:

»Es glaubte Cimabue in Malerei Den Platz zu halten; doch es sank die Feste Des Ruhms und Giotto hat nun das Geschrei!«

Beide lachen kurz auf, Giotto fühlt sich geschmeichelt.

Später wird Giotto in dem Fresko „Das Jüngste Gericht“ Dante im Profil verewigen; Museum Bargello, Florenz, Kapelle im Palazzo del Podestà, etwa 1336.71

Petrarca spricht seine vorigen Gedanken aufnehmend:„Sie haben ein modernes71, persönliches Empfinden, ein neues Bewusstsein, eine eigenwillige Art, die Dinge zu sehen. Jesus Christus erscheint nicht länger unnahbar. Er ist ein Mensch wie Sie und ich. Mensch und Gott sind einander ähnlich und Ihre Personen aber unterschiedlich. Sie beobachten die Natur und schärfen Ihren Wirklichkeitssinn. Ihre malerischen Figuren stehen lastend fest auf der Erde in hell-dunkler Abstufung. Woher kommt das?“

Giotto lächelt mild, steht langsam aus seinem geflochtenen Korbstuhl auf und geht in eine Zimmerecke, wo er aus einer Ledermappe ein paar vergilbte Zeichenblätter aus wertvollem Papier herausholt und es dem Dichter und Humanisten überreicht. Petrarca nimmt die Blätter entgegen und schaut sich diese eine Weile an.

Giotto steht neben ihm und erzählt:„Damals war ich etwa zehn Jahre alt. Mit diesen Zeich-nungen bin ich zu meinem späteren Lehrmei-ster Cimabue gegangen. Seine Kirchenausma-lungen habe ich stets bewundert. Ich hatte mich etwas geschämt, denn die Zeichnungen hatten nur Schafe, einen Hund und ein paar Bäume gezeigt und nicht etwa Jesus oder Heilige.“

Petrarca, beeindruckt vom Talent des damali-gen Zehnjährigen, bemerkt:
„In Ihren Zeichnungen erkenne ich bereits das lebendig Körperhafte der Figuren sowie die realistische Umgebung beim Schafe hüten, die für Sie einen Lebensbereich ausmacht, was ich bei Ihren Vorgängern so naturgetreu noch nicht gesehen habe.“

Giotto bedankt sich und erklärt:
„Was mich am meisten reizt, ist den Menschen bei Kirchenbesuchen eine augenfällig würdig narrative Atmosphäre zu vermitteln. Die neue-rdings ornamentalen Glasfenster der Dome strahlen sehr gut eine bis dahin nicht gekannte kultische Verzauberung aus, jedoch wird der Betrachter vom Irdischen zum Überirdischen erhöht. Das kommt den Auftraggebern der Kirchen entgegen, …“

Petrarca setzt schnell hinzu:
„… verfehlt jedoch eine der humanistischen Kernideen. Als Ebenbild Gottes glaubt der Mensch nicht nur als Metapher, das Höchste in der ganzen Schöpfung zu sein.“

Und besinnt sich auf ein Zitat:
„Über den Glauben steht in der Bibel: 'Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.'“72 Soll heißen: Die Gläubi-gen sollen an einem Glauben festhalten, der sich an einem unsichtbaren Gott orientiert.

Giotto leidenschaftlich:
„Si, si! Der wahre Glaube kommt vom inneren selbst und nicht von außen. Ich glaube, also bin ich eins mit dem Schöpfer.“

Und ergänzt leidenschaftlich:
„Auch deshalb gebe ich den gemalten Perso-nen individuell sichtbare Züge. Gottähnlich und nicht gottgleich. Der Betrachter überzeugt sich dann geradewegs, ob er an das berichtete Ereignis glaubt oder nicht.“

Petrarca begeistert:
„Sie behandeln ein Thema wie ein persönliches Dabeisein und lassen die Kirchengänger daran teilhaben. Sie schaffen es, alle Nuancen menschlicher wie göttlicher Empfindungen wiederzugeben.

Sie beenden bald ihre Unterhaltung, versprechen sich, in absehbarer Zeit ihre Diskussion fortzusetzen und verabschieden sich freundschaftlich.

68https://bilder.buecher.de/zusatz/40/40091/40091824_lese_1.pdf, Im elften
Gesang des Purgatoriums in Dantes »Göttlicher Komödie; 23.02.22, 12:35 Uhr
69 https://www.weltbild.de/media/txt/pdf/9783834216373-100.540.776.pdf,
15.04.22, 8:55 Uhr
70https://dasgoetheanum.com/ein-portraet-wie-ein-siegel/, dto.
71„modernes“ im Sinne: in der jüngsten, letzten Zeit aufgekommen;
neuzeitlich, zeitgemäß, aufgeschlossen.
72Hebräer 11,1