Dicke Hagelkörner klackern derweil schallend auf die Klippen hernieder. Einige kullern ploppig in ihren Höhleneingang hinein, um bald zu zer-schmelzen. Der Zauberkundige traut seinen Augen kaum. Seine Getreuen starren staunend wie gebannt auf das Phänomen zu seinen Fü-ßen und erwarten eine Erklärung von ihm. Ihre müden Augen glitzern im Feuerschein. Ein Funke erwarteter Hoffnung flammt in ihnen auf.
Der Schamane sieht im flächigen Gebilde ihre eigene Felsspalte. Rechts unten befindet sich der Eingang und links mittig die rechteckige Felsenöffnung, durch die gerade jetzt ein eisiger Luftzug zu spüren ist oder am frühen Morgen die ersten Sonnenstrahlen hinein-strömen, um sie erwärmend zu begrüßen. Trotz des Tierfettes, mit dem sie sich zum Schutz vor Lichtstrahlen zeitig einreiben, offenbaren ihre Unterarme und Beine leichte Rötungen ihrer elfenbeinfarbigen Haut.
Der Älteste beäugt noch einige Augenblicke von allen Seiten die Stäbchen-Struktur. Keine Frage, die Ahnen wispern ihm unverkennbar einen Hinweis zu. Sie haben zu ihm geflüstert. Und nun überbietet er noch einmal seine Lei-stung und erkennt in der Struktur ihre Vorseh-ung. Ihre Steinbehausung droht auseinander-zubrechen! Sie müssen Wohnstätte suchen oder einen tragbaren Unterschlupf bauen und mangels Nahrung abwandern.
Er nimmt den vorbereiteten glatt geschabten kleinen Fels-brocken, rückt die Schneckenschale mit der übrigverbliebenen Ockerfarbe zu sich heran und malt die Vorlage darauf ab.
Als sie getrocknet ist, bricht er mit dem Faust-keil den Brocken in fünf Teile ab. Ernstlich nachdenkend schaut er zunächst in die Runde seiner Schützlinge alle einzeln aus tiefster Seele an. Er kennt sie von Geburt an. Die einseitige Meeresfrüchteernährung ist ihnen anzusehen. Als Heilkundiger stößt er an die Grenze, weil er auch ihren Haarausfall nicht verhindern kann. Sie müssen ins Landesinnere gehen, wo sie üppige Flora und Fauna vor-finden, um neu anzufangen. Dann verteilt er an jede kleine Gruppe ein Bruchstück, auf dem die Überreste der Zeichnung
zu sehen sind. Damit sollen die Gefährten fortziehen und geeignetere Lebensbedingungen suchen, erklärt er ihnen, mühend das grollende Gewitter zu übertönen.
Seine vertrauenswürdig klingende Stimme vermischt sich mit der verzagt hörbar beglei-tend weißlich-gelben Muschelkette, die um seinen schlanken Hals und seinen weißen, langen Bart klirrt.
Eine neue leichte tragbare Unterkunftsart sei eine gute Lösung zum Überleben.
Wer sichere Lebensbedingungen finde, solle zurückkehren und berichten. Als Beweis, dass jener zu ihrer Sippe gehöre, würde er sein Fragment dabei-haben und an den Mittelteil des Steines an-legen können.
Er aber sei alt und zerbrechlich, bleibe mit diesem Splitter zurück und warte auf sie. Sein deutender Wegweiser, der ihr Blickfeld weiten und Möglichkeitsräume für die vorgestellte Zukunft eröffnen soll, findet, wenn auch durch zögerliches Kopfnicken, einhellige Zustimmung.
Und wie eine klangliche Untermalung seiner Abschlussdarbietung zerreißt plötzlich ein greller Blitz den nächtlichen Himmel. Sie schauen erstarrt hinaus auf die schauerlich erhellte Landschaft. Gerade noch rechtzeitig sehen sie im erlöschenden Lichtschein, wie unweit von ihrer Grotte von einem entsetzlich lauten Donner begleitend, eine große und turmartig hohe Felsenklippe, vom Blitzschlag getroffen, abbricht und mit hochschlagend schäumender in der jählings kaum sichtbaren Meeresgischt soeben mit einem dumpfen Geräusch aufschlägt.
Mit erschrocken großen Augen rücken die Freunde ehrfürchtig dicht zueinander, wissend um ihre Bestimmung. Der brausende Sturm ebbt nach und nach ab, saphirfarbene Meeres-wogen rollen sanft ans Ufer aus und bleiern legt sich die ersehnte Stille über ihren aufregend schicksalhaften Tag herab, wie ein Schleier zwischen Jetzt und Morgen. Ganz im Zeichen des langersehnten Aufbruchs.
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