#expose3 Künstler
Künstler
Kunsthistoriker M.A.
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Petrarca beugt sich zum Tisch vor ihm, auf dem eine bauchige venezianische Murano Glaskaraffe frischen Brunnenwassers steht. Er ergreift sie mit seinen schlanken und gepflegten Fingern am Karaffenhals und schenkt sich ein wenig in seinen kristallklaren Trinkbecher ein. Nachdem er ausgetrunken hat, schaut er den Künstler erwartungsvoll an.

Giotto:
„Bene, Signore Petrarca, meinem Lehrmeister dem Florentiner Maler und Mosaikkünstler Cimabue (1240-1302) habe ich es zu verdanken, dass er mein Verständnis für das Körperhafte gefördert hat. Und ich habe seinen Bruch mit der Form und Struktur byzantinischer Malerei auf meine Weise fortgesetzt...“

Petrarca unterbricht ihn sachte:
„Ja, und ihn überwunden. Sie meinen mit byzantinisch die Vereinheitlichung der dargestellten Figuren. Zudem haben Sie Ihre eigenen Ideen aus dem Studium antiker und zeitgenössischer Skulpturen zu einer bewegenden Bildsprache mit einfachen Kastenräumen entwickelt. Beispielsweise Ihr Freskenzyklus in Padua, Capella degli Scrovegni all’Arena, an dem Sie von 1304 bis 1306 gearbeitet haben. Bahnbrechend empfinde ich unter anderem das Motiv 'Der Judaskuss'.“

Giotto:
„Signore Petrarca, ich bewundere Ihren scharfen Verstand und Ihr gutes Auge.

Petrarca:
„Tante grazie!“

Giotto:
„Prego. Die byzantinischen Maler haben stilisiert, damit deren Ikonen von einfachen Menschen verstanden werden konnten. Meine Malerei befreit sich vom Leitbild byzantinischer Formensprache, die einem Fresko oder Tafelbild mehr als erbauliche und materielle Kostbarkeit verleiht – es gibt Ausnahmen. Ihr Bild erscheint im neutralen und feierlichen Gold-Flächengrund. Jedoch schweben die dargestellten Figuren vor dem warmen Goldton isoliert und starr. Sicher hat das in einem dunklen architektonischen Rahmen im Kerzenschein seinen unbestreitbaren Reiz. Ihre Wirkung ist raum- und zeitlos, überirdisch, nicht von dieser Welt. Kirchenbesucher und auch ich erleben, banal betrachtet, ein glückseliges Mysterium.“

Petrarca:
„Aber Sie verschaffen Ihrer Darstellung möglichst realistische Glaubwürdigkeit!“

Giotto:
„Ja. Im genannten Motiv „Der Judaskuss“ habe ich der goldgelben Farbe einen erweiterten Wert zugeteilt, neben Verrat, Neid und Habgier. Judas Gewandfigur erscheint nun im Mittelpunkt des Geschehens als eine Lichtgestalt. Er umarmt in gestreckten Falten gelegter Kleidung mit ausholender Geste die feine Gestalt Christi, dessen Kopf ein goldener Heiligenschein umrankt. Seine Jesu Berührung verursacht just eigene Leuchtkraft, in der die ausstrahlende Goldaureole Jesu ihre Krönung findet. Es ist der Augenblick vor dem verräterischen Kuss, um den Soldaten Jesus für dreißig Silberlinge66 zu offenbaren. Seine Jünger wollen ihn verteidigen, Petrus schneidet mit einem langen Messer das Ohr des Malchus67 ab. Links wird ein Apostel von der blau gekleideten breitbeinig stehenden Rückenfigur an der Flucht behindert. Rechts vorne in der Farbe sakraler Macht blickt und zeigt ein Priester auf Jesu. Hinter ihm drängen Soldaten heran, um den identifizierten Jesus gefangen zu nehmen.

Petrarca:
„Ein Massenauflauf, der einer choreografischen Theaterszene gleicht. Ein Rucken geht durch die Menge, auf der Bühne verschärft sich die Spannung. Fast alle Gebärden und Blickrichtungen der andrängenden Bewaffneten weisen den Betrachter auf den Brennpunkt des Geschehens. Ihre Lanzen, Speere und Fackeln lärmen unheildrohend vor einem dunkelblauen Nachthimmel als Echo einer metaphysischen Dämmerung des Göttlichen.“

Petrarca macht eine kleine Pause, lehnt sich entspannt in den knarzenden Korbstuhl zurück und spricht weiter:
„Sie wollen mit dieser Darstellung den ent-scheidenden Zeitpunkt des Ereignisses veran-schaulichen. Darin unterscheiden Sie sich von den langatmigen Bilderfolgen, die ich in bis-herigen Gotteshäusern gesehen habe. Ich erinnere mich gut an diese Geschichte, unter anderen, die mir meine Mutter aus der Bibel vor dem Einschlafen vorgelesen hat.“

Giotto:
„Si, signore Petrarca, meine Mutter mir auch.“

Überraschend klopft es an der Ateliertür und herein kommt ein Schüler von Giotto:

66Der Gegenwert liegt heute umgerechnet zwischen dem Wert eines Esels und
10.000 Euro.
https://de.wikipedia.org/wiki/Judaslohn#cite_note-2, 19.02.22, 9:40 Uhr
67Malchus war Diener bei Kajaphas, dem Hohenpriester Israels. Am Urteil
gegen Jesus beteiligt. https://de.wikipedia.org/wiki/Malchus, 20.02.22, 11:06 Uhr