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Erste Augenblicke der Moderne17
Unser Zeitreisende Mr Sajber kommt aus ferner Zukunft und möchte erfahren, welche Ereignisse auf die Moderne Kunst vorausweisen. Er ist mit keinem Raumschiff oder einer Telefonzelle in die Vergangenheit gereist, auch nicht teleportiert. Er hat sich mit seinen Gedanken in die Zeit versetzt, in der alles begann und ist aber für die Zeitgenossen unsichtbar. Er ist ein Forscher und Beobachter und greift somit nicht in die Ereignisse ein. Dabei kann er alles sehen, hören, riechen und fühlen. Seine Mission: Wesentliches und Glaubwürdiges aufzeichnen und gleichzeitig in die Zukunft senden.
Er landet im warmen Frühling des ausgehenden 18. Jh.s, über einem weiten Flachland mit Wiesen, Äckern und Wald, nahe der Hafenstadt Greifswald. Zunächst sieht er ein weißes grelles Licht, das ihn blendet.18 Automatisch schalten seine Sensoren auf den Umgebungsmodus. Das Land Vorpommern hat den Großen Nordischen Krieg, der in den Jahren 1700 bis 1721 geführt wurde, erleiden müssen. Es ging dabei um die Vorherrschaft im Ostseeraum. Jetzt unter der Schweden-Herrschaft erholt es sich. Diese lässt 1747 sogar das bis heute noch 2022 bestehende Universitätshauptgebäude errichten.19
Unweit der Bockwindmühle Eldena erblickt der Zeitreisende landeinwärts liegend zuerst die markante Silhouette Greifswalds. Sie wird durch den hohen Turm von St. Nikolai bestimmt. Und dann der Anblick von sprießendem Grünland, dessen Graspflanzen im Sonnenaufgang noch von der Feuchtigkeit des Morgentaus schimmern. Auch der erblühende Mischwald verbreitet einen angenehmen Geruch unter einem unendlichen Himmelblau. Bienen fliegen summend gelassen und wiegen sich leicht im Wind.
Die Wahrnehmung raubt ihm fast den Verstand und lässt seinen Kopf rot werden. Freilich kennt er die Landschaft aus Dokumentarfilmen in der Zukunft. Doch jetzt, vor der grandiosen Herrlichkeit der umringenden Natur, spürt er einen jähen Adrenalinstoß. Und hätte ihn seine Frau in der Zukunft, die seine Reise auf einem großen 3D-Bildschirm live neben ihm liegend Daheim begleitet, seitlich angeschaut, würde sie vielleicht vor Neid über seine Sinnesreize erblassen. Gewiss, sie hat gestaunt und sich über die Schönheit dieser alten Erden-Welt still mitgefreut.
Ja, sein Quantenpartikel gesteuertes Gehirn wird aufs Höchste gefordert. So sehr ist er vom wundervollen Gefilde ergriffen, gar trunken vor Glück, dass ihm im Bruchteil eines Wimpernschlages schwindlig wird und er momentan seine Berufung vergisst.20 Aber, seine rationale Fähigkeit, mit neuen Situationen fertig zu werden, stellt sich von selbst um. Ein Zitat eines bedeutenden Zeitgenossen fällt ihm ein und im Nu bringt es ihn in die eingedachte Realität: „Der Blick des Forschers fand nicht selten mehr, als er zu finden hoffte.“21
Ein milder Wind streichelt seine nunmehr geschärften Sinne. Er hört Vögel in den Bäumen auf den Ästen und Zweigen in Scharen. Eine salzhaltige laue Seebrise erfüllt die Luft. Er schaut hinter ihm auf das nächste Schauspiel. Nach der kleinen Insel Oie breitet sich vor seinen Augen das ausgedehnte tiefblaue und atemberaubende Ostseepanorama aus. Im großen Hafen ankern ein halbes Dutzend hoheitsvoll zweimastige Schiffe, deren Segel von der Sonne ausgebleicht sind. Links liegt die hügelige, mit Buchen bewachsene und weißen Kreidefelsen bestückte, größte Insel des späteren Deutschlands - Rügen.22
Soeben, unweit seiner Landungsstelle, vernimmt er rechts schnaubend rhythmisch trabende Pferde mit ihrem Geschirrgeklimper. Aus einer ansehnlich angelegten und hochgewachsenen Waldschneise, erweckt mit einer bunten Pferdeeskorte herausreitender, gertenschlanker Soldaten, die märchenhafte Geräuschkulisse. Vier Braune schwedische Warmblüter voraus, dahinter ein leichter Zweispänner, gezogen von zwei milchschimmeligen Lipizzanern. Und dahinter weitere vier Soldaten reitend auf vier Füchsen. Ihre Mähnen wehen wie Fähnchen im wallenden Wind. Ein beeindruckender Hingucker, zweifellos, Militärbegleiter in ihren dunkelblauen Uniformen, mit den über den Oberkörper gespannten zitronenfarbigen Schärpen. Leicht gekrümmte Galasäbel stecken in gülden verzierten Scheiden an den Hüften. Ohne Hüte, aber mit schmucklosen beigen Perücken, wirkt die Reitergruppe festlich galant. Sie ist die Leibgarde einer bildhübschen, mädchenhaften Frau und Tochter des Stadtkommandeurs, die auf dem Kutschbock sitzt und die goldfarbene gut gefederte und herrschaftliche Prachtkutsche lenkt. Unser Zeitreisende zoomt heran.